Ich selbst habe in meinem Tiermedizin-Studium – obwohl es noch gar nicht lange her ist – noch gelernt: Kastration ist eine alltägliche Sache und gehört zum Dasein in der Praxis einfach dazu. Eine kritische Auseinandersetzung mit dem Thema hat an meiner Universität nicht mit den Studenten stattgefunden. Da geht es mir nicht anders als meinem Kollegen Ralph Rückert.

Für einige Tierarten gehört die Kastration dazu, um sie handeln, halten und mit ihnen leben zu können. Einfach, weil es sonst nicht möglich wäre oder sich die Tiere unkontrolliert vermehren würden. Die freilaufende Katze ist dabei ein gutes Beispiel.

Der domestizierte Hund

Bei Hunden sieht die Lage jedoch anders aus: Wir halten unsere Hunden nicht wie Streuner, die sich den ganzen Tag frei bewegen und hin und wieder zuhause auftauchen, um etwas Essbares abzustauben. Der Hund ist das Haustier, das in der Domestikation am weitesten vorangeschritten ist und der sich in unser Leben einpasst wie kein anderes Tier. Die unkontrollierte Vermehrung ist daher kein Thema mehr . Hier liegt es an uns als Hundehalter, entsprechend zu managen. Gleiches gilt auch für Mehrhundehaushalte, in denen beide Geschlechter gehalten werden.

Nun ist es in vielen Tierarztpraxen noch immer an der Tagesordnung, dass Rüdenbesitzer mit dem Wunsch nach einer Kastration in die Praxis kommen, “damit er nicht mehr so aggressiv und dominant ist”. Hündinnen-Besitzer kommen, “damit sie keinen Krebs bekommt und die Läufigkeit nicht so anstrengend ist”. Und was soll ich sagen: In vielen Fällen wird dem Wunsch entsprochen, ohne dass ein wirkliches Beratungsgespräch stattfindet. Leider ist die Studienlage noch nicht zu allen Tierärzten durchgedrungen.

Wie sinnvoll ist eine Kastration? Wann ist sie eine gute Option für den Hund? Kann sie wirklich Krankheiten vorbeugen?

Mythos Mammatumor – was ist dran?

Ein nicht vorhandenes Organ kann nicht krank werden. So wurde ich einmal von einem Hundebesitzer gefragt, dessen Hund gerade an einem Milzriss verstorben war: “Kann man die Milz nicht prophylaktisch herausnehmen?” Ich kann den Gedankengang so kurz nach dem Tod des eigenen Begleiters natürlich sehr gut nachfühen. Den Wunsch, dieses Schicksal beim nächsten Hund abzuwenden.

Aber denken wir das weiter: Wie viele Organe wollen wir entnehmen, um zu verhindern, dass diese erkranken? Die Milz, die rupturieren oder Tumore ausbilden kann, auch wenn sie für das Immunsystem des Hundes ein so wichtiger Bestandteil ist? Die Ovarien der Hündin, die zu Mammatumoren beitragen können, auch wenn sie einen guten Teil des gesunden Hormonsystems der Hündin ausmachen? Die Beine, die von Osteosarkomen betroffen werden können, auch wenn der Hund darauf läuft? Die Prostata, die entarten kann? Die Hoden, die Tumore entwickeln können? Die Liste ist endlos…

Wir können nicht alle Krankheiten dadurch verhindern, dass wir die entsprechenden Organe vorab entfernen. Was bliebe übrig? Und vor allem: welche Probleme würden wir dadurch erst erschaffen, dass wir ohne Grund in den Organismus unseres Tieres eingreifen?

Die Reduktion der Mammatumor-Wahrscheinlichkeit ist möglich…

Eines der vorwiegenden Argumente bei der Hündin ist die Vorbeuge von Mammatumoren. Hier sind die Zahlen nicht abzustreiten: Bei einer Kastration der Hündin vor der ersten Läufigkeit reduziert sich das Risiko um 99,5% Prozent – eine beeindruckende Zahl. Aber was heißt das nun genau?

Unkastrierte Hündinnen haben ein Risiko von 0,2 – 1,86% (je nach befragter Studie) an einem bösartigen Mammatumor zu erkranken. Vor der ersten Läufigkeit kastrierte Hündinnen liegen dann bei etwa 0,001%. Bei einer Kastration zwischen der ersten und zweiten Läufigkeit liegt das Risiko noch bei 0,02-0,15%, zwischen der zweiten und dritten Läufigkeit bei 0,05-0,5%. Anschließend kann kein Effekt mehr beobachtet werden. Man kann also mit einer Frühkastration eine gute Reduktion der Mammatumor-Wahrscheinlichkeit erreichen.

Es gibt aber auch andere Vorteile, die eine Kastration bieten kann: Bei einer Ovariohysterektomie (die meistens durchgeführt wird, wenn wir landläufig von einer Kastration sprechen) werden sowohl Gebärmutter (Uterus) als auch Eierstöcke entfernt. Da der Uterus dann nicht mehr da ist, kann er natürlich keine Gebärmutterentzündung (Pyometra) mehr entwickeln und auch an den nicht mehr vorhandenen Eierstöcken können keine Tumore mehr entstehen.

Darüber hinaus bleiben die lästigen Blutungen aus, die hormonellen Schwankungen fallen weg und die Hündin ist vor ungewollter Fortpflanzung geschützt.

… aber zu welchem Preis?

Lange dachten wir: Der einzige Preis ist das Narkoserisiko und die Inkontinenz. Das ist doch allemal besser als Mammatumore! Aber ist das so?

Die bekannteste mögliche Folge einer Kastration ist die angesprochene Inkontinenz. Typischerweise tritt sie etwa 12-16 Monate nach der Kastration auf – bei großen Hunden spricht man von etwa 25% der kastrierten Hündinnen – jede vierte Hündin großer Rassen wird nach einer Kastration ihren Harn nicht mehr ausreichend halten können. Wir haben es hier also mit einer häufigen Folgeerscheinung zu tun, die gerade für den Besitzer zur Belastung werden kann und auch bei der Hündin zu wunden Stellen am Gesäß und Unwohlsein führen kann. Das wäre für viele Menschen vermutlich zu verschmerzen, wenn dadurch die Mammatumore mit ihren gefürchteten Lungenmetastasen ausblieben.

Neuere Studien zeigen aber noch mehr: Wir verhindern den einen Tumor – und fördern andere. Im Januar 2014 wurden im Journal of the American Veterinary Medical Association die Ergebnisse einer Studie an 2500 Vizslaspubliziert.  Hier zeigte sich: Kastrierte Hunde beiden Geschlechts erkrankten häufiger und früher an Mastzelltumoren, Hämangiosarkomen und Lymphosarkom. Ich muss gestehen, dass ich ziemlich platt war, als ich davon gelesen habe und es wird vielen Kollegen genauso gehen.

Für viele Hundetrainer sicher nicht überraschend: Auch Verhaltensstörungen traten bei kastrierten Hunden häufiger auf – allen voran die Angst bei Gewitter.

Mythos Aggressionsverminderung

Der offensichtlichste Effekt beim Rüden ist natürlich die fehlende Fortpflanzungsmöglichkeit. Viele Besitzer gehen zudem davon aus, dass Probleme mit Artgenossen und Menschen durch die Kastration besser werden würden. Unter anderem zeigte hier jedoch eine Umfrage aus einer Dissertation der Tierärztlichen Hochschule Hannover, die auf dem DVG-Kongress 2015 vorgestellt wurde:

  • Kastrierte Rüden zeigen häufig einen größeren Appetit als unkastrierte Rüden
  • Kastrierte Rüden riechen oft interessanter für andere Rüden als unkastrierte Rüden
  • Rüden, die früh kastriert wurden (zwischen sechs und 15 Monaten) wurden als ängstlicher eingeschätzt
  • Kastrierte und intakte Hunde reiten gleichermaßen häufig auf andere Artgenossen auf

Es zeigt sich, dass die meisten Verhaltensprobleme, die klassischerweise durch eine Kastration gelöst werden sollen, nichts mit dem Wegfall der Sexualhormone zu tun haben. Hier liegen andere Ursachen zugrunde. Gleichzeitig taucht auch hier wieder das Problem der zunehmenden Ängstlichkeit von Früh-Kastraten auf. Schaffen wir uns hier mehr Probleme als wir lösen?

Fazit: Kastration beim Hund nur nach strenger Indikationsstellung!

Wir sehen: Die Liste der Probleme, die wir mit einer Kastration schaffen, ist lang. Und sie ist in dieser Form ganz sicher nicht vollständig.

Wer zur Kastration beim Hund rät (als Tierarzt, Hundetrainer oder einfach als Halter), sollte sich der Konsequenzen bewusst sein und sich ganz genau fragen: Ist die Ursache des Problems wirklich in den Geschlechtshormonen oder den Geschlechtsorganen des Hundes zu suchen? In vielen Fällen wird die Antwort auf die Frage ein klares Nein sein.